Die übrige Geschichte geht den ganzen Weg entlang nur bergab. Der letzte Band der großen Fünf in der Entscheidungsserie, im Jahr nach dem Tod Ellens (sie war beinahe 88 Jahre alt geworden) veröffentlicht, entsprach dem Muster der vergangenen siebzig Jahre – in bezug auf das Kopieren von anderen Schriftstellern zu den betreffenden Themen.
Nachdem die Gemeinschaft und die Öffentlichkeit davon überzeugt worden waren, daß Ellens Belesenheit ihre Fähigkeiten und ihr Erinnerungsvermögen gewaltig vervollkommnet hatte, würde sich alles, was mit ihrem Namen versehen ist, verkaufen. Um die Jahrhundertwende verkaufte die Gemeinschaft Ellen nah und fern. Nach und nach verloren die Berichte der Bibel über das Evangelium, das Evangelium selbst und sogar Gott die Vorherrschaft auf den Kanzeln. Die Betonung lag vornehmlich auf der Autorität Ellens, auf ihrem raschen Blick in die Zukunft und die politische Neuordnung der geschichtlichen Ereignisse, ohne Rücksicht auf die Quellen oder den Grad der Genauigkeit. Viele Prediger wurden weniger zu Verkündigern des Lichtes und der Wahrheit als zu Hausierern der adventistischen „Ellenlogie“ und zu Topverkäufern für die Gemeinschaft. So war es klar, daß Gott erst an zweiter Stelle kam.
Im Adventist Commentary wurde Ellen als die Stimme der Autorität für die Ausbildungsstätten, die von der Gemeinschaft unterhalten werden, anerkannt.1 Die jährlichen Andachtsbücher, die an die Gläubigen verkauft wurden, brachten für jeden Tag ein prägnantes Wort von Gott aus Ellens Feder.2 Eine stattliche Reihe von Druckerzeugnissen überflutete die Gemeinde mit „neuen“ und „unveröffentlichten“ Zeugnissen.3 Zusätzliche Zusammenstellungen – auf Ersuchen oder Anregung von Beamten in Schlüsselstellungen, die für das, was sie taten, noch zu tun gedachten oder wovon sie überzeugt waren, Autorität haben wollten – erschienen immer wieder in Verlagslisten und Flugblättern, und die Geschwister kauften sie, ohne auf die Idee zu kommen, daß im wesentlichen andere Helfer als Gott die Fülle an Stoff möglich gemacht hatten.4
Schon in den frühen fünfziger Jahren hatte das White Estate geschrieben, daß es seine Absicht war, die Produktion von Zusammenstellungen einzuschränken. Aber es wurden weiterhin Zusammenstellungen herausgebracht.5 Es wurden Pläne gemacht, zusätzlich in den Archiven des White Estate einen Raum einzurichten, um all die Teile und Bruchstücke übriggebliebenen Materials unterzubringen, die in Drucksachen einbezogen wurden, welche unter Ellens Namen erschienen waren. Ein humorvolles Gerücht ging um, daß Enkel Arthur sein Feldbett während der Umbauarbeiten in der Nähe der Tür aufgestellt hatte, um Gottes Eigentum zu bewahren und Sorge dafür zu tragen, daß die geschlossene Tür dieses Tresors auch geschlossen blieb. Fest steht, daß die Jahre von Ellens Tod (1915) an bis in die frühen sechziger Jahre mehr bewirkt haben, um ihr ausgedehntes Schrifttum, ihr Image und ihren Status als Gottes „Erste unter Gleichgesinnten“ zu steigern, als alle Bemühungen zu ihren Lebzeiten. Für viele sah es tatsächlich so aus, daß nach ihrem Tode mehr über sie, für sie und von ihr geschrieben worden ist, als während ihres Lebens. Wo soll dies alles noch enden?
Während einer Zeit der Inbrunst neigen die Menschen dazu, über das Ziel hinauszuschießen. Geschehnisse werden freier und sorgloser behandelt – und das geschah mit einigen der Bruchstücke, die noch umherlagen. Zum Beispiel wurde in einem Review von 1871 ein Abschnitt gedruckt, der als „ausgewählt“ bezeichnet wurde – um anzudeuten, daß dieser einzelne Abschnitt aus einer Quelle nachgedruckt worden war, die entweder unbekannt war oder nicht genannt werden sollte:
Diesem Zeitalter fehlen Männer. Männer, die sich nicht verkaufen lassen. Männer, die das Falsche verwerfen wollen, in Freund und Feind, in ihnen selbst wie in anderen. Männer, deren Gewissen beständig ist wie die Nadel des Kompasses. Männer, die für das Recht einstehen, auch wenn die Himmel wanken und die Erde taumelt.6
Eine Umschreibung dieser „ausgewählten“ Gefühlsregung (wir finden sie dreißig Jahre später, 1903, in der Ausgabe von Ellens Education wieder) wurde zu einem der größten Edelsteine der Adventisten – immer wieder gebraucht, wiederholt, respektiert von Tausenden der Treuen:
Die Welt braucht dringend Männer – Männer, die sich nicht kaufen noch verkaufen lassen; Männer, die im Inneren ihrer Seele treu und ehrlich sind; Männer, die sich nicht fürchten, die Sünde bei ihrem Namen zu nennen; Männer, deren Gewissen in ihren Pflichten beständig ist wie die Kompaßnadel, die zum Nordpol zeigt; Männer, die für das Recht einstehen, auch wenn die Himmel einstürzen.7
Andere Teile und Bruchstücke begannen sich auch in Ellens Buch Testimonies for the Church zu zeigen.8 Bis zu dieser Entdeckung, die man nach ihrem Tode gemacht hat (soweit es die gegenwärtigen Informationen aufzeigen), wurden die Testimonies für unangreifbar gehalten. Sie waren die Reinheit ihres Genius, das Zeichen ihrer Verbindung mit Gott, der einzig wahre Anspruch auf ihre persönlichen, unverfälschten Séancen mit himmlischen Wesen. Selbst Uriah Smith zog eine Linie zwischen dem, was er gesehen hatte, und dem, worüber er sich zu dieser Zeit nicht sicher war.9 Aber es kann nicht länger verleugnet werden, daß, wenn irgendjemand ein Überbleibsel niederlegte, dies von Ellen White aufgegriffen und verwendet wurde. Früher oder später tauchte es in Ellens Leihhaus wieder auf und wurde als Gottes Ware verkauft.
Ein Forscher, den wir schon kennen, nämlich Don McAdams, kam mit einem Manuskript heraus, das offenbarte, daß Ellen den Historiker Wylie für einige Überreste in The Great Controversy verwendet hatte:
Die historischen Teile in The Great Controversy, die ich untersucht habe, sind ausgewählte Auszüge und Umarbeitungen der Historiker. Ellen White hat nicht nur hier und da Absätze geborgt, die sie beim Lesen fand; sie folgte den Historikern tatsächlich Seite für Seite, ließ viel Material aus, verwendete aber ihre Reihenfolge, einige ihrer Ideen und oft deren eigene Worte. In den Beispielen, die ich begutachtete, fand ich keine historischen Tatsachen in ihrem Text, die nicht auch von diesen Historikern beschrieben worden waren. Das handgeschriebene Manuskript über Johannes Hus lehnt sich so eng an die Historiker an, daß es nicht einmal durch ein Zwischenstadium gegangen zu sein scheint, sondern eher direkt von den gedruckten Seiten der Historiker in Frau Whites Manuskript hinein – einschließlich historischer Irrtümer und moralischer Ermahnungen.10
In der Mitte der siebziger Jahre unseres Jahrhunderts erschien eine zunehmende Anzahl von Berichten, die die Schriften von Ellen White und ihren Helfern in Frage stellten.11 Sogar die Mitglieder des White Estate wurden in dieses Werk auf eine stumpfsinnige Weise einbezogen. Ron Graybill, damals ein Assistent im Amt des White Estate, vollendete eine Studie über ein Kapitel aus The Great Controversy und fand heraus, daß vieles davon sich in einem Artikel in Signs of the Times vom Oktober 1883 mit dem Titel „Luther in the Wartburg“ wiederfand.12 Graybill hatte entdeckt, daß Ellen das, was sie wirklich geschrieben hatte, nicht vom Historiker Merle d’Aubigné stammte (wie angenommen worden war), sondern „eine gemeinverständliche Version Merle d’Aubignés war, die von dem Reverend Charles Adams für junge Leser erstellt worden war“ – in diesem Falle hatte sie also den Kopierer kopiert.
Selbst Graybills Verbindung mit dem White Estate konnte den Schmerz nicht lindern, wenn er schrieb:
Der Gesamteindruck, der aus dieser Studie und von diesem Forscher gewonnen wurde, ist folgender: Er stützt McAdams’ Hauptaussagen, daß die objektive und irdisch-geschichtliche Erzählung sich auf Werke der Historiker gründete und nicht auf Visionen.13
Wie im Fall von McAdams’ Arbeit würde das White Estate die Arbeiten Graybills, ihres eigenen Mitarbeiters, nicht freigeben. Man muß schon mehr Geheimagent sein, um eine Kopie dieser Werke zu erhalten. Aber wenn einer unter den Unglücklichen ist, die auserkoren sind, die kostbaren Reliquien einzusehen, aus welchen Graybill seine Schlußfolgerungen zog, wird er sehen, daß Ellen in der Tat in ihrer eigenen Handschrift die Äußerungen eines anderen Autors kopiert hat, der selbst die Worte und Gedanken eines anderen Autors abschrieb. Wenn dies die Position ist, die die adventistische Geistlichkeit einnimmt, wenn sie darauf besteht, daß „jedermann“ es getan hat (und es deswegen richtig sein muß), dann könnten sie recht haben. Aber nun kann jemand fragen: Warum Gott hineinziehen und darauf beharren, daß er es absegnet?
Da vieles wertvolle Quellenmaterial des White Estate Forschern nicht ohne weiteres zur Verfügung steht, ist es unseren Intellektuellen noch nicht möglich gewesen, das ernsthafte Problem, das in bezug auf die Bedeutung der Inspiration zu existieren scheint, in den Griff zu bekommen.
Forscher der heutigen modernen Zeit, wie William S. Peterson und Roland L. Numbers, taten recht daran, die Quellen einiger Bruchstücke und Überreste zu enthüllen, die von Zeit zu Zeit in Ellens Schaufenster zu sehen waren. Aber es war ihr Unglück, auf Grund ihrer Bemühungen als Angestellte an adventistischen Institutionen nicht mehr willkommen zu sein – wie so mancher vor ihnen. Um in der Adventgemeinde weiterhin wirken zu können, ist es nicht notwendig, das zu sehen, was Ellen sah, und es ist gewiß auch nicht notwendig zu erkennen, wo sie das sah, was sie sah. Aber es war immer schon notwendig, zu glauben, daß sie sah, was sie sah. Diese Tatsache ist schwer zu akzeptieren für diejenigen, die – wenn auch ohne selbst zu erscheinen – im Leihhaus herumstöbern, wo die Waren für die Käufer als Gottes Waren dargestellt werden.
Zeitweilig erwies es sich, daß Aussagen Ellen G. Whites nicht nur schöpferisch waren, sondern auch ausgelassen wurden. Der frühere Präsident der Southern California Conference der Siebenten-Tags-Adventisten, Harold L. Calkins, überflutete 1971 die Ortsgemeinden mit dieser Kostbarkeit, die im Review vom 7. Oktober 1865 Ellen White zugeschrieben wurde:
Das Gebet ist die Antwort auf jedes Problem im Leben. Es bringt uns in Harmonie mit der göttlichen Weisheit, die weiß, wie alles und jedes in Vollkommenheit gebracht wird. Oft beten wir nicht in bestimmten Situationen, da von unserer Seite her gesehen die Aussichten hoffnungslos sind. Aber bei Gott ist nichts unmöglich. Nichts ist so verstrickt, daß dem nicht abgeholfen werden kann. Kein menschliches Verhältnis ist für Gott zu gespannt, um diesem wieder Versöhnung und Verständnis zu verleihen. Keine Gewohnheit ist so tief verwurzelt, als daß sie nicht ausgerottet werden könnte. Niemand ist so schwach, daß er nicht stark sein könnte. Niemand ist so krank, als daß er nicht geheilt werden könnte. Kein Verstand ist so getrübt, daß er nicht hochbegabt werden könnte. Vertrauen wir in Gott, wird er uns mit allem versorgen, was wir brauchen. Was auch immer uns Angst und Sorge bereitet, laßt uns aufhören, die Schwierigkeiten aufzuzählen. Vertrauen wir Gott aufgrund seiner heilenden Kraft, seiner Liebe und seiner Macht.14
Später schrieb Leslie Hardinge, ein Ellen G. White-Berater und Sekretär der Vereinigung, an das White Estate und bat um eine Angabe über die Quelle dieser Aussage. Er bekam folgende Antwort:
Das Zitat, das du uns mit deinem Schreiben vom 31. März zugeschickt hast – das wir hiermit wieder zurückgeben – und das vermutlich in einem Artikel von Ellen White im Review vom 7. Oktober 1865 enthalten war, ist keine Aussage von Ellen G. White. Wenigstens war es keinem Mitarbeiter des White Estate möglich, eine solche Aussage in ihrem Schrifttum zu finden. Wir haben keinerlei Wissen über die Quelle dieses Zitates.15
Nicht, daß es irgendeinen Unterschied gemacht hätte, wenn von dem Zitat behauptet worden wäre, die Zeilen stammten aus Ellens Feder; denn selbst dann hätten sie ja sehr gut von einem anderen Schreiber kopiert gewesen sein können. Aber die Frage stand im Raum: Wie viel desgleichen ist in der Vergangenheit im Namen Ellens getan worden – und letzten Endes im Namen Gottes? Die Stützbalken waren unter der Aussage herausgeschlagen worden, da sie ohne Ellens Unterschrift den Wert der Autorität verlor. Für die Masse der treuen Gläubigen hatte sie ohne den Stempel von Ellens Zustimmung wenig Wert.
In einem 1921 geschriebenen Brief, als Antwort auf Fragen, die von ihrem Neffen gestellt wurden, verteidigte Vesta J. Farnsworth in loyaler Weise Ellen und ihre Aktivitäten. Doch oft ist es der Fall, daß eine Verteidigung schon aufgrund ihrer Natur Informationen offenbart, die das Gegenteil einer Verteidigung in sich bergen. Mrs. Farnsworth schrieb zum Beispiel:
In späteren Jahren, als ihr gegenüber der Gedanke geäußert wurde, daß die Verwendung von Aussagen, die sie von Historikern entlehnte, als Verletzung der Rechte und Geschäftsinteressen der Verleger angesehen wurde, gab sie die Anordnung, in den folgenden Ausgaben ihrer Bücher Korrekturen anzubringen, die die Herkunft der Zitate angeben sollten.16
Obwohl der Großteil von Ellens wichtigsten Werken schon veröffentlicht worden war, nachdem dieser „Gedanke“ in bezug auf Der große Kampf dargelegt wurde, hat niemand eine Aussage von ihr hervorgebracht, daß sie bereit war, den Personen besondere Anerkennung zu geben, deren Arbeiten und Ideen in ihr Material Aufnahme gefunden hatten.
Eine Aussage aus einem Brief von Willard A. Colcord stellt den Hintergrund zu der Erklärung dar, die Vesta Farnsworth zu einer anderen Frage ihres Neffen gab:
Das, was ich in meinem Brief an meinen Vater über den Brief aus Australien gesagt hatte, war wohl zu ungenau, als daß du die wirklichen Tatsachen daraus entnehmen könntest. In den Aufsätzen über Themen der Religionsfreiheit, die von Schwester White einige Jahre vorher an die Abteilung für Religionsfreiheit geschickt wurden, waren zwei Seiten enthalten, die aus einer Kommunikation stammten, die ich während meines Aufenthaltes in Australien mit Schwester White geschrieben hatte, und diese waren ohne Anerkennung, Quellennachweis oder desgleichen, sondern einfach als Originalmaterial aufgenommen worden. Diese Methode der Verwendung von so viel Material anderer in Schwester Whites Schrifttum, ohne Hinweise und Anerkennung, hat sie und ihre Schriften in sehr große Schwierigkeiten gebracht. Eines der Hauptziele in der späteren revidierten Ausgabe von Der große Kampf lag darin, diese Dinge zu bereinigen, und einer der wichtigsten Gründe, warum Sketches from the Life of Paul nicht wieder neu gedruckt wurde, war in den ernsthaften Defekten zu finden, die auf dieser Grundlage basierten.17
Um ihrem Neffen zu antworten, zitierte sie folgendes aus Informationen von jemandem, der als Sekretär bei Mrs. White eine Zeit lang arbeitete. Einer dieser Angestellten war Clarence C. Crisler:
Während der späteren Jahre in Schwester Whites Lebenswerk wurden in ihrem Büro nicht nur Akten von ihren Briefen und Dokumenten aufbewahrt, sondern auch mehrere andere Dokumente verschiedener Herkunft; und diese verschiedenen Abhandlungen waren gekennzeichnet und geordnet, so daß sie auf Abruf hin sofort erreichbar waren. Diese Masse von Material war unter der zusammenfassenden Bezeichnung „Dokumentenakte“ bekannt. Sie war völlig getrennt von der Akte in Sachen Zeugnisse und wurde gesondert aufbewahrt.
Die Dokumentenakte war nach Themen geordnet und enthielt vieles von historischem und allgemeinem Interesse, verschiedene Stadien unserer Gemeinschaftsarbeit betreffend. Man bemühte sich dabei nicht um Vollständigkeit; die Dokumentenakte war eher ein Hefter, in dem Material, das sich als nützlich erweisen könnte, in Kategorien unterteilt aufbewahrt wurde.
In dieser Dokumentenakte war eine Mappe mit der Aufschrift „Abteilung für religiöse Freiheit“. Darin war über die Jahre hinweg vielseitiges Material zu diesem Thema aufbewahrt worden, einschließlich einiger Duplikate sowie herausgeschriebener Abschnitte von Briefen und Manuskripten aus der Feder von Schwester White.
Als vor der Generalkonferenz 1909 Mrs. White nach dem verlangte, was von ihr zu dem Thema religiöse Freiheit geschrieben worden war, damit sie ihre Überlegungen anstellen konnte, was von diesem Thema in die in Arbeit befindlichen Testimonies for the Church, Band 9, mit eingebracht werden sollte, wurde ihr das ausgehändigt, was sich in der regulären Akte ihrer Briefe und Manuskripte befand. Später, als sie im Begriff war, von ihrem Haus und Büro in Kalifornien zur Konferenz aufzubrechen, wurden Teile aus diesen Briefen und Manuskripten herauskopiert, damit sie Abschnitte mitnehmen konnte; denn sie hatte immer noch keine endgültige Entscheidung darüber getroffen, was zu dieser Zeit am besten veröffentlicht werden sollte.
Um sicher zu sein, daß alles vorhandene Material stets griffbereit wäre, auch wenn sie sich weit weg vom Büro befand, nahm eine ihrer Sekretärinnen, bevor sie in den Zug zur Konferenz in Washington stieg, aus der Dokumentenakte den Ordner mit der Aufschrift „Abteilung für religiöse Freiheit“. Und dieser wurde zu der Konferenz mitgenommen, zusätzlich zu dem Material von den Testimonies aus der Brief- und Manuskriptakte. Dieser Ordner, wie die meisten anderen Ordner der Dokumentenakte, enthielt Material von verschiedensten Quellen, und hier stieß ein Mitglied der Abteilung für religiöse Freiheit auf die Seite, die sich als ein Brief erwies, den er ihr einige Jahre zuvor zugesandt hatte. Die Seite war von Bruder W. A. Colcord geschrieben worden.18
Was Vesta Farnsworth über Marian Davis, eine andere Sekretärin von Ellen White, aussagt, eröffnet eine Perspektive, die noch untersucht werden muß:
Es ist festgehalten worden, daß man Fräulein Marian Davis eines Tages über das Plagiat in Ellen Whites Büchern weinen sah. Wenn das wahr ist, dann ist das eines der vielen Dinge in Verbindung mit ihrer Arbeit, die sie zutiefst betrübt haben. Schwester Marian Davis war außerordentlich treu und gewissenhaft in ihrer Arbeit und war sich der Verantwortung bewußt, die ihr in Verbindung mit Schwester Whites Schrifttum anvertraut worden war. Sie hatte eine schwächliche Konstitution und war oft bedrückt. Viele Male bat sie ihre Partner und Mitarbeiter um Fürbitte und Rat. Mit der Hilfe Gottes tat sie eine ausgezeichnete Arbeit. Sie liebte die Arbeit mehr als ihr Leben, und alles, was diese angriff, attackierte auch sie. Sie war mitbeteiligt an der Entscheidung, Anführungsstriche in der ersten Ausgabe von Der große Kampf wegzulassen und eine allgemeine Anerkennung im Vorwort zu benutzen. Als dann harte Kritiken darüber aufkamen, fühlte sie sich – und Schwester White mit ihren Mitarbeitern – in hohem Maße betroffen.19
Und nun kommt die wirklich schockierende Aussage:
Die Anschuldigung, daß Schwester White das von ihr Geschriebene mit einer Schürze zudeckte, wenn Besucher eintraten, um die Tatsache zu verbergen, daß sie gerade von einem Buch abkopierte, ist wahrlich absurd. Es war kein Geheimnis, daß sie ausgewählte Passagen aus Büchern und Zeitschriften abschrieb. Aber wenn sie Ratschläge und Tadel an ältere Prediger niederschrieb, wünschte sie manchmal, daß jüngere Mitarbeiter nicht wissen sollten, was und an wen sie schrieb. Dies veranlaßte sie öfter, das von ihr Geschriebene zu bedecken, wenn Besucher kamen.20
Was Frau Farnsworth hier offenbarte, war sicher mehr, als sie wollte. Zuerst hatte sie angegeben, daß „ich bei der Abfassung dieses Briefes glücklich war, Hilfe aus verläßlichen Quellen erhalten zu haben, und ich glaube, daß du das, was ich geschrieben habe, als authentisch ansiehst.“21
Wenn sie glaubwürdig ist, dann müssen wir schlußfolgern:
- daß Marian Davis weinend aufgefunden wurde;
- daß sie über die Plagiate in Ellen Whites Büchern geweint hat;
- daß Marian einen großen Spielraum mit dem hatte, was sie tat, wahrscheinlich oft ohne die Genehmigung und das Wissen von Ellen;
- daß Ellen ihr Geschriebenes mit einer Schürze bedeckte, wie die Gerüchte aussagten;
- daß es kein Geheimnis war, „daß sie [Ellen] ausgewählte Passagen aus Büchern und Zeitschriften abschrieb.“
Was kann das White Estate angesichts dieser Tatsachen anderes tun, als die Diskussion über Ellen Whites Verwendung des Materials anderer (im Namen Gottes) auf das Gebiet der Wertvorstellungen zu verlagern?
Im Gegensatz zu Tatsachen sind Wertvorstellungen natürlich nichts anderes als mehr oder weniger die persönliche Meinung des Einzelnen. Es ist die große, graue Zone eines Niemandslandes, in dem wir leben. Es ist ungreifbar und subjektiv. Es ist eine Sache des Gefühls, nicht des Verstandes oder der Vernunft, sowie der Hoffnung, der Wünsche, Träume und des Ehrgeizes. Es ist ein Gebiet der Mutmaßung, nicht der Beweise, von den Ungläubigen oft als „Glaube“ bezeichnet. Es ist das Schlachtfeld, auf dem die Topverkäufer der Psyche ihren Zauber spielen lassen. Für die Geistlichkeit mag es „Inspiration“ genannt werden. Vielleicht dient es als Signalflagge, mit der die Menschen an dem wahren Wort vorbeigeleitet werden, welches sie nicht wagen zu erfassen. Das so selten verwendete Wort lautet „Autorität“.
Das Wort Autorität ist wie das Wort Inspiration ungreifbar in der religiösen Welt. In jener Welt hängt die Autorität, wie das Gefühl für Schönheit, vom Blickwinkel des Betrachters ab. Aber im Gegensatz zur Inspiration muß Autorität am Ende in das Objektive, in die Welt der Realität, in das Hier und Jetzt und in die Handlung übertragen werden. Nie wurde die Inspiration veranlaßt, sich von ihrem bequemen Platz zu entfernen – und tatsächlich hat sie es die Jahrhunderte hindurch nie getan. Oft erscheint die Inspiration als ein unehrlicher Versuch vor ehrlichen Menschen, ein Konzept zu definieren und erfassen zu wollen, das jeder Definition zu trotzen scheint. Inspiration erwärmt den Körper und befriedigt den Geist, muß aber nicht notwendigerweise eine Aktion hervorrufen. Sie kann in den verborgenen Kammern der Seele für immer versteckt sein und wird von anderen oft gar nicht wahrgenommen. Aber Autorität muß sich in Handlung zeigen, wohingegen die Inspiration oftmals die Aktion nur verhätschelt. Uneingeschränkt gegebene Autorität wird zur Grundlage aller Selbstdisziplin, wohingegen Inspiration bald vergeht. Die von Ellen überzeugten Gottesmänner würden sich selbst und ihrer Sache einen besseren Dienst erweisen, wenn sie sich die Frage vergegenwärtigen würden, welche Art von Autorität Ellen gegeben worden war, anstatt ihr Schiff so lange zu vernachlässigen, bis es sinkt, während sie sich dann gegenseitig im Namen der Inspiration anschreien.
Ellens Position in der Adventgemeinde und ihrer Geschichte ist sicher, trotz der „white lie“. Ihre Inspiration und Hingabe für ihre Sache kann nicht geleugnet werden; denn diese existieren in den Leben ihrer Gläubigen weiter. Aber die Gemeinschaft ist nie mit ihrer Autorität über Tatsachen, Verhalten und Gewohnheiten zurechtgekommen. Die Glieder der Adventgemeinde haben es zugelassen, daß die Topverkäufer der Psyche Ellens Autorität an sich rissen und diese für ihre eigenen Zwecke in eine göttliche umwandelten. Sie sind es, die oft Ellens Trompete im Namen Gottes blasen. Wenn die Gemeinschaft überleben will, muß die Geistlichkeit aus diesem Niemandsland herauskommen und sich selbst sowie andere dahin bringen, mit einer zufriedenstellenden Antwort nachzuweisen, worin Ellens Autorität besteht.
Es ging um die Aufklärung dieser Autorität, nicht um die Inspiration, die William S. Sadler suchte, als er Ellen 1906 schrieb. Er hatte immer Ellen in ihren Entschlüssen und Schriften unterstützt. Aber er begann Zweifel zu haben, wie andere sie hegten, die zu blind und zu lange gefolgt hatten. Er berichtet über einige dieser Probleme:
Je nach dem Stand der Dinge finde ich mich selbst in einer verzwickten Lage, wenn ich versuchen will, Verschiedenes von dem, was du vor kurzem geschrieben hast, zu verstehen. Ich bin oft in Verlegenheit, zwischen den folgenden zwei Positionen wählen zu müssen:
- Muß ich die Zustände oder Anklagen, die in den Zeugnissen niedergeschrieben sind, als wahr anerkennen und als Zustände, wie sie wirklich zur heutigen Zeit bestehen, obwohl nach Studium unter Gebet und sorgfältigen Nachforschungen ich immer noch unfähig bin zu erkennen, daß diese Dinge existieren?
- Ist dies ein weiteres Beispiel wie die Gebäude in Chicago, mit denen du etwas darstelltest, das in Wirklichkeit nicht vorhanden ist, aber das der Herr im voraus anzeigen will?22
Sadler sah eine gefährliche Veränderung der Einstellung in der Gemeinschaft aufkommen – auch zu Ellen und ihrem Schrifttum:
Ich habe seit Jahren diesen Dingen nur ein taubes Ohr zugewandt, aber jetzt, da unsere Einstellung zu den „Testimonies“ zu einem Test in der gesamten Gemeinschaft wird, erkenne ich, daß ich diesen Dingen auf den Grund gehen muß.23
Wie andere vor ihm war er in Sorge über Willie Whites Einfluß auf die Zeugnisse. Dies verdeutlicht er Ellen, indem er „die Mitteilung von dir, mit dem Datum des 19. Juli 1905, an die Brüder J. H. Evans und J. S. Washburn geschrieben“ zitierte:
Ich schrieb deswegen einige Zeilen an Bruder Daniells, um vorzuschlagen, dafür etwas zu tun; aber Willie sah keine Möglichkeit, dies zu verwirklichen; denn Bruder Daniells und andere waren zu dieser Zeit sehr entmutigt in Hinsicht auf den Zustand der Dinge in Battle Creek. So sagte ich ihm, daß er die Nachricht nicht zustellen müsse.24
Womit dieser gute Doktor sich abmühte, war anscheinend das Gleiche, mit dem alle denkenden Personen – und Ellen zu gewissen Zeiten ihrer Erfahrung – zu ringen hatten. Ihr Problem endete immer am gleichen Punkt: Würde sich der wahre Gott Ellen G. Whites Bitte zu erkennen geben? In seinem Brief an sie stellte Sadler diese Frage immer und immer wieder:
Sind die Briefe, die du an die Leiter unseres Werkes schreibst, als Antworten auf ihre Schreiben, Zeugnisse? Muß ich alles, was du schreibst, so wie es ist und Wort für Wort, als vom Herrn kommend empfangen? Oder sind die Mitteilungen, die du aussendest – die deine persönlichen Briefe sind – persönliche Mitteilungen von Schwester White?
Wie soll meine Einstellung denen gegenüber sein, die zögern, die Zeugnisse zu akzeptieren, oder den Zeugnissen anscheinend ablehnend gegenüberstehen? Soll ich sie mit Gott und der Bibel in Frieden lassen oder soll ich sie öffentlich beschuldigen und mit ihnen streiten?
Die Reformkleidung betreffend und die Änderungen der Belehrung – ist deine Einstellung heute anders als die, die du früher dazu hattest?
Mir wurde einige Jahre zuvor gesagt, daß dein Sohn diese Änderungen in den Manuskripten gemacht hat. Ist dies so? Hat irgendjemand die Autorität, in irgendeiner Weise dein Schrifttum zu verändern? In welchem Ausmaß und in welcher Weise sind die Zeugnisse redigiert, nachdem sie deine Feder verlassen haben und ehe sie im Druck die feste Form bekamen?25
Fragen, Fragen und noch mehr Fragen.
Aber sie wurden niemals beantwortet. Das muß einer der Gründe sein, warum der medizinische Praktiker – über den die Berichte sagen, daß er unter anderem ein Chirurg mit der besten Berufserfahrung am Columbus-Krankenhaus, Chefchirurg am Bethany Sanatorium, ehemaliger Professor der medizinischen Hochschule in Chicago und der Autor verschiedener Bücher war – später folgendes zu einigen Fällen geschrieben hat, die er beobachtet hatte:
Nahezu alle diese Opfer von Trancezuständen und nervöser Katalepsie kommen früher oder später zu dem Glauben, sie selbst seien Boten Gottes oder Propheten des Himmels; und ohne Zweifel sind die meisten von ihnen aufrichtig in ihrem Glauben. Ohne ihre physiologischen und psychologischen Gebrechen zu verstehen, kommen sie aufrichtig dazu, ihre eigenartigen geistigen Erfahrungen als etwas Übernatürliches anzusehen, während ihre Anhänger alles blindlings glauben, was sie lehren, da es sich um vermeintlich göttlichen Charakter bei diesen sogenannten Offenbarungen handeln muß.26
Die Beweise deuten auf die Tatsache hin, daß Sadler nicht nur aus seiner beruflichen Überzeugung heraus so sprach, sondern auch aus seiner persönlichen Beobachtung Ellen Whites durch die Jahre hindurch und aufgrund seiner eigenen Erfahrung als ein ehemals daran Glaubender.
Viele hatten zu ihrer Zeit Fragen Ellens Autorität betreffend – ganz gleich, ob sie Ehemann, Verwandter, Sekretär, Assistent, Redakteur, Schriftsteller, Erzieher, Mitarbeiter oder Freund waren – aber sie kamen dazu, ihre Beziehung mit Gott in Frage zu stellen, wenn es um Ellens Ansprüche in ihrem Schrifttum und ihren „Visionen“ ging. Es war nicht der Fall, daß sie ihre pastorale Inspiration oder ihren Glauben daran in Zweifel zogen, aber sie stellten in Frage, in wessen Namen sie handelte.
Diese Streitfrage, die Ellen und ihre Zeitgenossen ein Leben lang beschäftigte, besteht auch heute noch und ist die Ursache von Streitigkeiten – und das eine Generation nach ihrem Tod im Jahre 1915.
Kein Wunder, daß Jahrzehnte später Ron Graybill, ein Mitarbeiter des White Estate, vor dem Adventist Forum Board im November 1981 dieselben Gedanken wie Sadler äußerte – nur in anderen Worten:
Die meisten ihrer Bemerkungen befassen sich nur mit der göttlichen Quelle des Materials und neigen dazu, den Einfluß menschlicher Gedanken und Meinungen zu bestreiten. Und während wir keine Schwierigkeiten mit der Tatsache haben, daß Ellen White von anderen Autoren entlehnte, wundern wir uns, warum sie ihre Entlehnungen scheinbar geleugnet hat.27
Aber so war es nun einmal. Es ist nur ein Teil der ausgedehnten „white lie“, zu sagen, daß die Gemeinschaft über Ellens Kopierarbeit offen und ehrlich gewesen ist. Weder sie noch ihr Mann haben sich dazu bekannt, daß sie von anderen gestohlen hat. Tatsächlich haben die Whites – von James, Sohn Willie und weiter zum Enkel Arthur – in bezug auf Mutter Ellen einen harten Kurs gesteuert, bis sie zu Eingeständnissen genötigt wurden. James’ bester Versuch findet sich in seinem Buch Life Sketches, das 1880 veröffentlicht wurde, gerade acht Jahre vor dem „großen Bekenntnis“ in der Einführung zu Der große Kampf (1888). Es ist so bemerkenswert in seinem Versuch, Unkenntnis zu verleiten oder die Fakten zu vertuschen, daß es im Ganzen zitiert werden soll:
- Könnte das Mißtrauen uns zu der Annahme verleiten, daß sie das, was sie in ihren persönlichen Zeugnissen schrieb, von anderen in Erfahrung gebracht hatte? Wir stellen uns die Frage: Wieviel Zeit blieb ihr, alle diese Tatsachen in Erfahrung zu bringen? Und wer kann sie auch nur einen Augenblick lang als Christin ansehen, wenn sie ihr Ohr Gerüchten leiht, um diese dann als göttliche Vision niederzuschreiben? Wo finden wir eine Person mit großen Fähigkeiten, seien sie natürlich oder erworben, die auf die Schilderung von mehreren tausend, jeweils verschiedenen Fällen hört und sie dann niederschreiben kann, ohne sie durcheinanderzubringen oder sich in tausend Widersprüche zu verwickeln?
Sollte Mrs. White in einem einzigen Fall die Tatsachen von Menschen gehört haben, dann war dies in tausenden von Fällen so, und Gott hat ihr das, was sie in diesen persönlichen Zeugnissen schrieb, nicht gezeigt.
- In ihren veröffentlichten Werken wird so vieles ausgeführt, was in anderen Büchern nicht gefunden werden kann, und doch ist es so klar und schön, daß ein unvoreingenommener Leser es sofort als Wahrheit erkennen kann. Wenn die Kommentatoren und Autoren theologischer Werke im allgemeinen diese gedanklichen Edelsteine erkannt hätten, die den Verstand so eindringlich prägen, und diese in Büchern veröffentlicht worden wären, hätten alle Prediger im Lande sie lesen können. Diese Männer sammeln Gedanken aus Büchern, und Mrs. W. hat Hunderte von Dingen geschrieben und gesprochen, die so wahr, schön und harmonisch sind, wie sie im Schrifttum anderer nicht gefunden werden können; sie sind für die meisten intelligenten Leser und Hörer neu. Wenn diese Gedanken nicht in Büchern zu finden sind und sie nicht gepredigt worden sind – wo hat Mrs. W. diese dann gelesen? In welchen Quellen hat sie diese neuen und inhaltsreichen Gedanken gefunden, die in ihrem Schrifttum und in ihren Ansprachen geäußert werden? Sie kann sie nicht in Büchern gelesen haben, da diese keine solchen Gedanken enthalten. Sicherlich hat sie sie nicht von den Predigern gehört, weil diese nicht daran dachten. Der Fall ist ganz klar. Es erfordert offenbar hundertmal mehr Leichtgläubigkeit, zu glauben, daß Mrs. W. diese Dinge von anderen erfuhr und sie dann als Visionen von Gott aufbereitete, als zu glauben, daß der Geist Gottes ihr diese geoffenbart hat.28